Bindung vs. Autonomie – ein Spagat zwischen zwei Grundbedürfnissen

Die Neugierde der Kinder ist der Wissensdurst nach Erkenntnis, darum sollte man diese in ihnen fördern und ermutigen.

John Locke

Es handelt sich um eines der schönsten Gefühle überhaupt: geliebt zu werden. Kuscheln, streicheln, Komplimente erhalten, Teil einer Gruppe zu sein. Ein Gefühl, welches sich wohl schwer mit einem anderen vergleichen lässt und wie eine Batterie ständig wieder aufgeladen werden muss. Bleibt es aus, fühlen wir uns leer und einsam. Für einen jeden nachvollziehbar, dass eine volle „Batterie“ uns das Gefühl gibt, wertvoll zu sein und dementsprechend ein Grundbedürfnis ist, welches einen positiven Einfluss auf unseren Selbstwert hat.

Wechselbeziehung der Grundbedürfnisse

Doch nicht nur Bindung ist ein universelles Bedürfnis, was in einer Wechselbeziehung zwischen der Psyche und dem Körper steht. Deci und Ryan postulieren in ihrer Selbstbestimmungstheorie zwei weitere Grundbedürfnisse des Menschen, deren Befriedigung zu mehr Zufriedenheit im Leben führt und Grundvoraussetzung für einen gesunden Selbstwert ist: Das Bedürfnis nach anerkannter Kompetenz, nach freier Selbstbestimmung und eben nach sozialer Bindung und dem daraus resultierenden Gefühl geliebt zu werden (vgl. auch Entwicklung des Selbstwerts). Allerdings kann keines dieser Grundbedürfnisse isoliert zu einem hohen Selbstwert führen. Sie hängen teilweise ungünstig miteinander zusammen und sind voneinander abhängig. Besonders bemerkbar macht sich diese Wechselwirkung bei den Bedürfnissen von Bindung und Autonomie - mit der Erfüllung des einen, geht meist automatisch ein Defizit des anderen einher. [2]

Bindung

Wie entsteht sie?

Eine positive Bindung meint die vertrauensvolle Beziehung zu einer oder mehreren anderen Personen. Es geht um das Gefühl der Zugehörigkeit und darum, mit anderen verbunden zu sein. Dieses Bedürfnis wird durch menschliche Wärme, Empathie und Akzeptanz unterstützt. Der Mensch kommt bereits mit einem starken evolutionär bedingten Wunsch nach Bindung auf die Welt, um sein eigenes Überleben und das seiner Nachkommen zu sichern: „Bin ich sozial Gebunden, bin ich in Sicherheit. Werde ich geliebt, werde ich versorgt“.[2] Bindung ist aber nicht nur von externalen Faktoren abhängig, sondern wird auch durch internale Faktoren bedingt. So spielt nicht nur die Beziehung zur engsten Bindungsperson eine wichtige Rolle, sondern auch Charaktereigenschaften des Kindes, wie zum Beispiel das Temperamentverhalten. Nichtsdestotrotz leisten Eltern durch sensitives, liebevolles Verhalten einen massiven Beitrag zur Bindungssicherheit. Ein weiterer unterstützender Faktor ist die zeitliche Stabilität der Beziehung. [4]

Was passiert bei Verlust von Bindung?

Sowohl ein dysfunktionales familiäres Umfeld als auch kritische Lebensereignisse können darüber entscheiden, wie stark die soziale Bindung und somit die Grundlage für einen positiven Selbstwert beeinträchtigt ist. Der Verlust von Bindung geht mit Schmerz und Trauer einher: Liebeskummer, Ausgrenzung, Einsamkeit, Mobbing, der Verlust eines geliebten Menschen.[2] Ein zu lang andauernder Verlust von Bindung kann großen Schaden anrichten – nicht nur in Hinblick auf den Selbstwert. Je weniger soziale Unterstützung der elterlichen Seite gegeben ist, desto höher ist die Unterstützungssuche der Jugendlichen zu Gleichaltrigen und desto gefährdeter kann eine positive gesundheitliche Entwicklung sein, zum Beispiel in Hinblick auf den Drogenkonsum. [4] Dabei ist anzumerken, dass der Kontakt zu anderen Gleichaltrigen nicht per se negative Konsequenzen hat. Jugendliche profitieren unteranderem von der Entwicklung von Konfliktlösungsstrategien und werden durch soziale Vergleiche in der Entstehung eines Selbstbildes gefördert.

Schwerwiegend emotional vernachlässigte Kinder zeigten außerdem Veränderungen im Gehirn – es schrumpfte. Darüber hinaus ist die Wahrscheinlichkeit für alleinstehende Personen für eine Herzerkrankung nachweislich höher. Grenzte man mit Hilfe einer Computersimulation eine Versuchsperson von einem Ballspiel aus, wurden ähnliche Hirnareale aktiviert, wie wenn ihnen Schmerzen zugefügt werden würde. Ein Verlust von Bindung tut also körperlich weh. [6] In einer guten Beziehung wiederum leiden Menschen seltener unter Depressionen, weisen einen gesünderen Blutdruck auf und sind weniger gestresst.[2]

Autonomiestreben als Opposition

Dem Bedürfnis zur Bezugsperson eine sichere Bindung aufzubauen und sozial gebunden zu sein, steht auf den ersten Blick im Gegensatz zum Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Das Bedürfnis nach Autonomie besteht zunächst darin, selbst entscheiden zu können, mit was und mit wem wir Zeit verbringen und in welche Richtung wir uns dementsprechend entwickeln wollen. Der Mensch strebt danach freiwillig und aus eigenen Stücken über sein Handeln, insbesondere in Übereinstimmung mit inneren Werten zu bestimmen. [1, 3]

Mit ca. zwei Jahren setzt sich ein Kind zum ersten Mal konkret mit Selbst- und Fremdkontrolle auseinander, welche sich insbesondere auf die Sauberkeitserziehung beziehen. Im Mittelpunkt steht einerseits der Ausdruck eigener Bedürfnisse und die Durchsetzung der eigenen Freiheit, andererseits der Wunsch die Interessen anderer zu berücksichtigen. Ziel ist es in dieser Phase einen Ausgleich zwischen beidem herzustellen. Ein erfolgreicher Ausgleich hat zur Folge, dass ein Gefühl von Autonomie empfunden wird. Dominiert hingegen das Gefühl der Fremdbestimmung, kommt es viel eher zu Selbstzweifeln. Zwar testen Kinder auch schon im Kleinkindalter ihre Grenzen im „Alleine machen!“, besondere Bedeutung wird dem Autonomiebestreben allerdings erst in der Adoleszenz zugeschrieben. Beispielsweise zeigen Jugendliche gegenüber anderen Gleichaltrigen neue Handlungsweisen, so auch Risikoverhalten oder übernehmen diese von anderen. Der Wunsch sich vom Elternhaus abzulösen, wird immer größer, Erfahrungsräume werden selbst ausgesucht und somit auch selbst bestimmt, was erlebt und erlernt wird. Das Ausmaß der Konflikte zwischen Eltern und Kind steigt maßgeblich an, welche mutmaßlich funktional für die Abnabelung sind.

Ein Begriff, der mit dem Autonomieverhalten des Kindes zusammenhängt, ist das elterlich Monitoring. Er beschreibt, inwieweit Eltern über Aufenthaltsorte, Unternehmungen und das Wohlbefinden ihrer Kinder informiert sind. Studien zu folge ist davon auszugehen, dass inadäquates Monitoring sowohl das Sozialverhalten als auch schulische Leistungen und den Umgang mit Drogen negativ beeinflusst. Sich den Eltern gegenüber öffnen zu wollen, scheint eher von der kindlichen Bereitschaft abhängig zu sein als von strengem Kontrollverhalten. Diese Bereitschaft wiederum wird mutmaßlich von der Entwicklung einer sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind beeinflusst.

Aus Sicht der Jugendlichen nimmt die elterliche Kontrolle über das ganze Jugendalter und darüber hinaus kontinuierlich ab. So auch zunächst die wahrgenommene elterliche Unterstützung, was sich aber im Laufe der späten Adoleszenz wieder stabilisiert. Nichtsdestotrotz zählt die Verbundenheit zu einem der wichtigsten Prädiktoren für das spätere psychische Wohlbefinden. [4] Es ist daher nachvollziehbar, dass Jugendliche darin unterstützt werden sollten, eine Balance zwischen Autonomie und Individueller Entwicklung zu finden, als auch ein Gleichgewicht zwischen der Verbundenheit zu den Eltern und der eigenen Identifikation herzustellen.

Kind-Fotograf

Balance zwischen Autonomie und Bindung

Alle Grundbedürfnisse sind gleichermaßen wichtig für die Entstehung des Selbstwertes und sollten somit optimaler Weise ausgeglichen sein. Eine Balance zwischen Autonomie und Bindung zu finden ist gar nicht so leicht und ist ein Spannungsfeld, dass für die Eltern genau so anstrengend ist, wie für ihre Kinder. Da jedes Kind ein individuelles Wesen ist und seinen eigenen Weg wählt die Welt zu entdecken, funktioniert die Erziehung natürlich nicht nach genauer Anleitung. Dennoch lässt sich sagen, dass sich ein autoritativer Erziehungsstil auch in der Jugend für eine positive Eltern-Kind-Beziehung als förderlich erwiesen hat – nicht zu verwechseln mit einem autoritären Erziehungsstil. Mit Autonomie und einem autoritativen Erziehungsstil ist nämlich nicht gemeint, nach den Interessen anderer handeln zu müssen, sondern meint viel eher die freiwillige Entscheidung sich an die Bedürfnisse anderer anzupassen.[5] Kinder sollten die Möglichkeit haben, selbst Entscheidungen zu treffen. Darf das Kind nicht selbst entscheiden, wird es daraus lernen: „Mein Urteil ist nichts wert; was gut für mich ist, wissen andere sowieso besser.“ und „Ich darf meine Meinung nicht durchsetzen und nicht über mich selbst bestimmen – ich bin abhängig.“[2] Es ist also wichtig, die kindlichen Bedürfnisse mit fürsorglichem, verständnisvollem und unterstützendem Verhalten zu stillen, gleichzeitig aber auch Grenzen aufzuweisen, Erwartungen zu stellen und ihnen den Raum für Entscheidungen zu geben.[4] Wenn ein Kind beispielsweise gerne mit Freunden spielen würde, aber sein Zimmer aufräumen sollte, dann hätte es die Wahl seine Aufgabe zu erledigen und anschließend mit Zeit mit Freunden zu verbringen oder eben mit der Konsequenz zu rechnen zu Hause bleiben zu müssen. Entgegen der Annahme, dass Bindung und Autonomie zwei unvereinbare Gegenpole sind, zeigt sich Autonomie in einem fürsorglichen Rahmen der Verbundenheit als Voraussetzung für eine sichere Bindung. Andersherum erweist sich eine sichere Bindung als Grundlage für die kindliche Bereitschaft sich mitzuteilen, was wiederum den Eltern erleichtert, ihren Jünglingen mehr Spielraum für eigene Entscheidungen zu geben. Eine unsichere Bindung hingegen lässt wenig Platz für autonomes Verhalten, da Kinder entweder mit einem Verlust von Bindung rechnen oder aber zwanghaft unabhängig sein wollen. [6]

Zusammengefasst kann man sagen, dass die elterliche Wertschätzung, das Fordern und Grenzensetzen bzw. die Gewährung und Förderung von Eigenständigkeit gute Vorrausetzungen für einen sich positiv entwickelten Selbstwert sind.[5] Ein autoritativer Erziehungsstil liefert kein detailliertes Regelwerk, sondern dient eher als Orientierung, was Raum für Flexibilität bietet. Denn auch Kompromissbereitschaft ist eine Tugend, die ihr Kind von Ihnen lernen kann

Exploration-Kind

Übung Bedürfnistorten

Sie sehen unten drei sich überschneidende Kreise, die jeweils für ein Grundbedürfnis stehen. Befüllen Sie jeden Kreis mit eigenen, den Grundbedürfnissen entsprechenden Verhaltensweisen, welche Sie oft ihrem Kind gegenüber zeigen. Welcher Kreis ist am meisten gefüllt worden? Wie könnten Sie einen Ausgleich schaffen?

Falls sie keine Kinder haben, nehmen sie sich gerne die Zeit und überlegen einmal was für Verhaltensweisen Ihnen denn generell wichtig wären und ordnen Sie sie den dazugehörigen Kreisen zu.

bindung1


Quellen:

[1] Blickhan, D. Positive Psychologie: Ein Handbuch für die Praxis. (Paderborn: Junfermann Verlag, 2018).

[2] Chmielewski, F., Hanning, S. Möge der Selbstwert wachsen und realistisch sein – Rezension zu den Therapie-Tools „Selbstwert “. (Stuttgart: Georg Thieme Verlag KG, 2021)

[3] Hausler, M. Glückliche Kängurus springen höher. Impulse aus der Glücksforschung und Positiver Psychologie, 1. (Paderborn: Junfermann Verlag, 2019)

[4] Lohaus, A., Vierhaus, M., & Maass, A. Entwicklungspsychologie. (Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, 2015)

[5] Stange, W., Henschel, A., & Schmitt, C. (Eds.). Erziehungs- und Bildungspartnerschaften: Grundlagen und Strukturen von Elternarbeit. (Wiesbaden: Springer VS, 2012)

[6] Zimmermann, P., & Iwanski, A. Bindung und Autonomie im Jugendalter. Individualität, Gruppen und Autonomie. (Stuttgart: Verl. Freies Geistesleben, 2014)


Anna Baab

Anna ist Psychologiestudentin, im 5. Semester ihres Bachelors an der UMIT Tirol und nebenberuflich Fotografin. Die 22-Jährige wuchs im Landkreis München auf und wohnt nun seit 2020 in Innsbruck. Ihr Hauptaugenmerk richtet sich auf die Vertiefung des Verständnisses zwischenmenschlicher Verhaltensweisen.