Perfektionismus mit Selbstmitgefühl überwinden

„Vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens nur Prinzessinnen […] Vielleicht ist all das Schreckliche im Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe erwartet.“

Rainer Maria Rilke

In den 1950er Jahren forderte Carl Rogers die Positive Psychologie auf, Faktoren zu beschreiben, welche die Entwicklung zu einer „fully functioning person“ begünstigen. Im Deutschen wird das meist etwas unglücklich übersetzt, als Mensch mit voller psychischer Leistungsfähigkeit. Dabei wies Rogers explizit daraufhin, dass dieser Begriff nicht auf „Arbeitsleistung“ bezogen ist, sondern vielmehr auf das umfassende und ganz persönlich sinnhafte Nutzen des eigenen Potentials. [2]

Doch die Frage, wie optimale Leistung zu verstehen ist, begleitet uns auch heutzutage noch in vielen Facetten. Im Alltag begegnen wir ständig Druck, dass wir in unseren verschiedenen Rollen als Angestellte:r, als Elternteil, als Partner:in, als Freund:in etwas leisten oder gar perfekt sein müssen.

Diese Leistungsstandards sind manchmal mit Perfektionismus verbunden. Unter Perfektionismus versteht man eine mehrdimensionale Persönlichkeitseigenschaft, also eine Eigenschaft, die sich aus mehreren Aspekten zusammensetzt.

Wie zeigt sich Perfektionismus?

Dementsprechend divers zeigt sich auch perfektionistisches Verhalten. Hewitt und Flett schlugen bereits 1991 eine Unterteilung von perfektionistischem Verhalten in drei Kategorien vor, die sich bis heute bewährt hat. [3]

Demnach werden folgende Kategorien unterschieden:

Selbstorientierter Perfektionismus

Menschen mit diesem Perfektionismus-Typ setzen sich generell sehr hohe Leistungsstandards und bewerten ihren Fortschritt beim Verfolgen ihrer Ziele anhand eigener Kriterien.

Das führt häufig zu Selbstkritik und Selbstvorwürfen, wenn der unvermeidbare Fall eintritt und der Standard einmal nicht erreicht wird.

Beispiel: Anna muss in ihrem Studium eine Hausarbeit zu einem für sie interessanten Thema verfassen. Sie strebt dafür eine bestmögliche Leistung an und setzt sich das Ziel eine Eins zu bekommen. Als sie ihre geplante Deadline für die Literaturrecherche trotz guter Planung nicht einhalten kann weil sie Überstunden in ihrem Nebenjob machen muss, kritisiert sie sich selbst und ärgert sich über ihre scheinbar mangelhafte Planung.

Sozial vorgeschriebener Perfektionismus

Menschen, die zu sozial vorgeschriebenem Perfektionismus neigen, sind häufig von einem Gefühl belastet, den unrealistisch hohen Erwartungen Anderer nicht gerecht zu werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Erwartungen offen ausgesprochen oder nur vermutet sind. Betroffene erleben häufig Versagensgefühle, werten sich selbst ab, neigen zu Ängsten, oder vermeiden Herausforderungen um Fehler und Enttäuschungen nicht zu erleben.

Beispiel: Sörens Chef beauftragt ihn bis nächsten Montag einem Bericht zum Jahresbudget zu erstellen. Die ganze Woche fühlt er sich beim Gedanken an den Bericht gestresst und angespannt. Er fragt sich, ob sein Chef seine Arbeit für gut genug befinden wird und ob er ihn möglicherweise feuern wird, wenn etwas schiefläuft

Fremdorientierter Perfektionismus

Dieser Perfektionismus-Typ tritt sehr häufig auf. Menschen mit fremdorientiertem Perfektionismus stellen unrealistisch hohe Ansprüche an Andere. Werden diese Ansprüche nicht erfüllt, neigen Betroffene schnell zu Schuldzuweisungen und Abwertungen. Zum Teil verlieren sie auch das Vertrauen, wenn Andere ihre unrealistischen Standards nicht erfüllen können. Dieser Perfektionismus-Typ kann also sehr problematisch bei der Arbeit oder in Beziehungen sein.

Beispiel: Lorenz arbeitet an einem wichtigen Arbeitsprojekt mit seiner Kollegin Sarah. Obwohl die Deadline nur noch drei Tage entfernt ist, verabschiedet sich Sarah nach einem produktiven Arbeitstag pünktlich in den Feierabend. Lorenz reagiert wütend weil er von Sarah erwartet hätte, dass Sie mit ihm noch den ganzen Abend am Projekt arbeitet. Er wertet Sarah innerlich als unmotiviert ab.

Ab wann wird Perfektionismus ungesund?

Um dieser Frage wissenschaftlich nachzugehen müssen wir zunächst perfektionistisches Verhalten in zwei Neigungen unterteilen. [3–5]

  1. perfektionistisches Streben („perfectionistic strivings“): Das Setzen und Verfolgen von hohen, aber realistischen Leistungsstandards, was motivierend ist
  2. Perfektionistische Besorgtheit („perfectionistic concerns“): Das häufige und schnelle Kritisieren der (eigenen) Leistung, was mit Ängsten und Sorgen vor Fehlern und nicht ausreichender Leistung verbunden ist.

Anhand des gut etablierten Tripartit-Modells kann man Perfektionismus Perfektionismus dahingehend unterteilen, ob eine Person eher zu hohen Leistungsstandards (Streben), zu hoher Besorgtheit Fehler zu machen (Besorgtheit), oder zu beidem neigt (siehe Grafik 1).[5–7]

Tripartit

Grafik 1: Tripartit-Modell des Perfektionismus [5]

Der Unterschied von gesundem und ungesundem Perfektionismus liegt nicht daran, ob eine Person hohe Leistungsstandards hat („Streben“), sondern ob sie zusätzlich noch viele Sorgen und Ängsten vor Fehlern hat („Besorgtheit“). „Gesunder Perfektionismus“ ist insofern gesund, als dass Menschen, die sich hohe Leistungsstandards setzen, zugleich mehr positive und weniger negative Gefühle erleben und mit ihrem Leben insgesamt zufriedener sind als „ungesunde Perfektionisten“ und „Nicht-Perfektionisten“. [8,9] Außerdem sind gesunde Perfektionisten weniger anfällig für Depressionen und Angststörungen, wozu ungesunde Perfektionisten neigen. [10] Menschen, die hohe Leistungsstandards haben und gleichzeitig sehr besorgt über ihre Leistungen sind, erleben im Gegensatz dazu das geringste Ausmaß an positiven Gefühlen und sind am wenigsten mit ihrem Leben zufrieden. [8,9]

Der Umgang mit uns selbst

Selbstkritik – Wenn wir mit uns selbst kämpfen

Eine Selbstkritikneigung, die ungesunden Perfektionismus charakterisiert, merken wir unter anderem an Verallgemeinerungen („immer“, „nie“), Übertreibungen („Er/sie hasst mich“), und Selbstabwertungen („Ich kann nichts“, „ich bin nichts wert“, „ich bin nutzlos“, „ich bin nicht liebenswert“). Oft lösen diese Gedanken schwierige Gefühle, wie Scham, Wut, Angst, oder Traurigkeit aus. Hier kann uns das bewusste Praktizieren von Selbstmitgefühl unterstützen.

Selbstmitgefühl – Wenn wir unserem Leid mit Fürsorge begegnen

Die Fähigkeit unserem Innenleben mit all seinen angenehmen und unangenehmen Facetten in einer wohlwollenden Haltung zu begegnen, wird als Selbstmitgefühl bezeichnet. Je nach Lebenserfahrung und Persönlichkeit fällt es uns leichter oder schwerer, uns selbst unabhängig von unserer Stimmung oder unserer gegenwärtigen Situationen wie eine:n gute:n Freund:in zu behandeln. Doch unabhängig davon, wie leicht oder schwer uns das aktuell fällt, gibt es eine erfreuliche Nachricht: Selbstmitgefühl ist eine Fähigkeit, keine feste Eigenschaft, und als solche kann man sie gezielt trainieren, so wie man Muskelstärke im Fitnessstudio aufbaut.

Nach Kristen Neff besteht Selbstmitgefühl aus drei Komponenten. [11]

Achtsamkeit und Verständnis

Das achtsame Wahrnehmen der eigenen Gedanken und Gefühle, ohne diese zu bewerten.

Verbundenheit

Die Einsicht, dass andere Menschen ähnliche Probleme, ähnliches Leid erfahren.

Freundlichkeit/Wärme/Wertschätzung

Eine wohlwollende, liebevolle Haltung gegenüber dem momentan unangenehmen Erleben.

Eine konkrete Übung hierzu ist der Stuhltanz, der an die Schema-Therapie angelehnt ist. Sie unterstützt dabei unserer inneren kritische Stimme mit mehr Mitgefühl zu begegnen und uns von ihrer Kontrolle zu lösen, wenn sie uns in ständigen Ängsten und Sorgen festhält. [12]

Übung Stuhltanz

Ziele: Zugang zu verschiedenen Anteilen in uns zu finden, Verstehen wie diese zueinander stehen, und welche Gefühle sie in der Gegenwart auslösen.

Ein paar gute Gründe: Fördert achtsames Wahrnehmen der inneren Welt und Selbstmitgefühl.

Hintergrund: Stellen sie drei leere Stühle in einem Dreieck vor Ihnen auf. Jeder Stuhl stellt einen Anteil in ihnen dar.

  1. Der erste Stuhl steht für ihre selbstkritische Stimme (innerer Kritiker)
  2. Der zweite Stuhl steht für das daraus resultierende Gefühl, also z.B. Traurigkeit oder Scham durch die erfolgte Selbstabwertung
  3. Der dritte Stuhl stellt die Perspektive eines guten Freundes oder Mentors

Die Vorstellung, dass in Ihnen verschiedene Teile existieren, ist auf den ersten Blick oft ungewöhnlich. Das Vorhandensein von verschiedenen Anteilen ist jedoch ganz normal.

Beispiel: Sie kommen nach einem langen Arbeitstag erschöpft zu Hause an. Ein Teil möchte gerne entspannen und die Füße hochlegen, während ein anderer Teil (innerer Kritiker) erwartet, dass man noch die Wohnung putzen sollte wie jeden Mittwoch. Ein vermittelnder freundlicher Teil findet einen Kompromiss – erst Füße hochlegen, dann das Wichtigste Putzen, damit man danach noch mehr entspannen kann.

Überwiegt in unserem inneren Gebilde ein Anteil zu sehr und unser inneres System kommt aus dem Gleichgewicht, können psychische und emotionale Belastungen auftreten. Hier setzt der „Stuhltanz“ an, der ihnen helfen kann, diese Anteile besser zu verstehen und ihnen freundlicher zu begegnen.

Anleitung: Sorgen sie dafür, dass Sie ungestört sind und sich wohlfühlen. Rufen Sie sich nun eine Situation ins Gedächtnis, in der Sie sich in letzter Zeit für ein Verhalten oder eine Entscheidung kritisiert haben. Nun betrachten Sie die drei Stühle vor ihnen. Ihre Aufgabe ist es, nacheinander die Perspektive von jedem der drei Stühle einzunehmen.

  1. Zunächst setzen Sie sich auf den Stuhl des inneren Kritikers. Versuchen Sie, die Gedanken zu der Situation auszusprechen. Gerne laut. Zum Beispiel könnte der innere Kritiker so etwas sagen wie „Ich hasse es, dass Du so faul bist und einfach nichts auf die Reihe bekommst. Du bist echt ein Versager.“ Beobachten sie den Umgangston der Stimme. Ist er eher niederschmetternd oder bleibt er fair?
  2. Nun setzen Sie sich auf den zweiten Stuhl, der den Anteil darstellt, der sich vom inneren Kritiker verletzt oder abgewertet fühlt. Achten Sie auf alle Gefühle und Empfindungen, die als Reaktion auf die kritische Stimme auftauchen. Das können auch ganz verschiedene Gefühle sein (z.B. erst Ärger, dann Angst oder Traurigkeit). Versuchen Sie außerdem auch hier, die Gedanken auszusprechen. Der abgewertete Anteil könnte zum Beispiel so etwas sagen wie „Ich bin verletzt von deinen Worten“ oder „Ich fühle mich allein und nicht unterstützt“.
  3. Nun setzen Sie sich auf den dritten Stuhl, der die Stimme eines guten, wohlwollenden Freundes darstellt. Was würde ein außenstehender liebevoller Freund zu dem verletzten Anteil sagen? Versuchen sie diesem Anteil mit Neugierde und Fürsorge zu begegnen und zu verstehen, welche Bedürfnisse und Gefühle dahinterstehen. Wenden Sie sich auch dem Kritiker zu und relativieren Sie unfaire oder unrealistische Ansprüche. Können sie das eigentliche Ziel hinter dessen Aussagen verstehen? Oft ist es so, dass der Kritiker vor der Abwertung Anderer beschützen will und hierfür lieber eine Selbstkritik in Kauf nimmt. Hierbei übertreibt er es dann manchmal.

Schauen Sie auch hier auf den Umgangston und die Gefühle, die ausgelöst werden, wenn Sie mit der Stimme eines wohlwollenden Freundes in Verbindung sind. Werden Sie ärgerlich auf den Kritiker oder erleben Mitgefühl und Traurigkeit gegenüber dem abgewerteten Gefühlsanteil?

Reflexion: Spüren Sie nach ein paar Tagen noch einmal nach, welche Gedanken und Gefühle die Übung in ihnen ausgelöst hat. Verstehen Sie ihre verschiedenen Anteile nun etwas besser? Wie können Sie diese Erkenntnisse eventuell beim nächsten Mal wenn Sie sich für etwas selbst kritisieren, umsetzen, sodass die verschiedenen Anteile in Ihnen besser zusammenarbeiten können?


Quellen:

  1. Zitat: Rilke, R. M. Briefe an einen jungen Dichter. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993).
  2. Rogers, C. R. On becoming a person : a therapist’s view of psychotherapy. (1961).
  3. Hewitt, P. L. & Flett, G. L. Perfectionism in the Self and Social Contexts: Conceptualization, Assessment, and Association With Psychopathology. Journal of personality and social psychology 60, 456–470 (1991).
  4. Frost, R. O., Marten, P., Lahart, C. & Rosenblate, R. The dimensions of perfectionism. Cognitive Therapy and Research 14, 449–468 (1990).
  5. Stoeber, J. & Otto, K. Positive Conceptions of Perfectionism: Approaches, Evidence, Challenges. Pers Soc Psychol Rev 10, 295–319 (2006).
  6. Smith, M. M., Saklofske, D. H., Yan, G. & Sherry, S. B. Perfectionistic strivings and perfectionistic concerns interact to predict negative emotionality: Support for the tripartite model of perfectionism in Canadian and Chinese university students. Personality and Individual Differences 81, 141–147 (2015).
  7. Suh, H., Gnilka, P. B. & Rice, K. G. Perfectionism and well-being: A positive psychology framework. Personality and Individual Differences 111, 25–30 (2017).
  8. Gaudreau, P. & Thompson, A. Testing a 2×2 model of dispositional perfectionism. Personality and Individual Differences 48, 532–537 (2010).
  9. Rice, K. G. & Ashby, J. S. An efficient method for classifying perfectionists. Journal of Counseling Psychology 54, 72–85 (2007).
  10. Noble, C. L., Ashby, J. S. & Gnilka, P. B. Multidimensional Perfectionism, Coping, and Depression: Differential Prediction of Depression Symptoms by Perfectionism Type. Journal of College Counseling 17, 80–94 (2014).
  11. Neff, K. The mindful path to self-compassion: Freeing yourself from destructive thoughts and emotions. British journal of psychology. 101, 179 (2010).
  12. Roediger, E. Was ist Schematherapie? : Eine Einführung in Grundlagen, Modell und Anwendung. (Paderborn: Junfermann, 2009).

David Berger

David studiert an der Universität in Innsbruck Psychologie im Bachelor. Sein vorheriges Studium in Molekularbiologie mit der damit einhergehenden präzisen Denkweise mischen sich mit einem großen Interessen an Buddhismus, Yoga, und weiteren Methoden der tiefen Selbsterfahrung. Er hofft diese Interessen in seiner zukünftigen Praxis in einer ganzheitlichen psychotherapeutischen Arbeit zu kombinieren.